Buchrezension: Globale Ungleichheit.

Wie sich Ungleichheiten in der globalen Gesellschaft ausdrücken, wie sie entstehen und welche Maßnahmen ergriffen werden können, argumentieren die Entwicklungsforscherinnen Karin Fischer und Margarete Grandner in ihrem neuen Buch.

Vertrauen in Kapitalismus bröckelt.

Die 2.000 reichsten Menschen der Welt besitzen mehr als die ärmeren 4,6 Milliarden, so der neue Bericht der britischen NGO Oxfam, der zum Wirtschaftsforum in Davos Ende Januar 2020 erschienen ist. Ein zeitgleich publizierter Vertrauensindex kommt zum Ergebnis, dass von den 36.000 Befragten in 24 Ländern 54 Prozent, also mehr als die Hälfte angaben, der Kapitalismus schade mehr als er nützt.
Droht dem weltweit dominierenden Wirtschaftssystem die Delegitimation? Oder ist der Glaube an eine nachholende Entwicklung der Länder des Südens ungebrochen? Entscheidende Zukunftsfragen, die im Band Globale Ungleichheit gestellt und bearbeitet werden.

Bewusstsein über Ungleichheit.

Ungleichheit hat es immer gegeben, neu in der globalen Informationsgesellschaft sei, dass alle davon wissen, so einmal Ulrich Beck, der mit dem Begriff „Weltrisikogesellschaft“ der Soziologie den globalen Blick geöffnet hat.
In diesem Sinne postulieren die Herausgeberinnen dieses Bandes, Karin Fischer von der Kepler Universität Linz und Margarete Grandner vom Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien: „Wenn soziale Unterschiede als ‚natürlich‘ oder gottgegeben empfunden werden, werden sie üblicherweise nicht als Ungleichheit definiert.“ (S. 10) Als Beispiel führen die beiden Aristoteles an, für den die Ungleichbehandlung zwischen Frauen und Männern sowie zwischen Herrschenden und Dienenden normal waren.

Politikfelder der Ungleichheit.

In den 14 Kapiteln des als Lehrbuch konzipierten Werkes geht es jedoch weniger um die Wahrnehmung von Ungleichheit, sondern vielmehr um Theorieansätze, die diese erklären bzw. – im Nord-Süd-Zusammenhang – um die „Great Divergence“ (dt. Große Divergenz) sowie die „Entstehung der Dritten Welt“ (Andrea Komlosy, S. 57).
Es geht um Politikfelder der Ungleichheit wie beispielweise Globalisierung, Freihandel, Kolonialismus, globale Arbeitsmärkte und die Rolle der „Finanzialisierung“ der Wirtschaft. Die von Autor*innen unterschiedlicher Universtäten und Institute verfassten Beiträge geben einen exzellenten Einblick in die Thematik globaler Ungleichheit.
Die theoretischen Ansätze werden durch Fallbeispiele ergänzt: zum Beispiel über Bildungsungleichheit, Initiativen zur Verbesserung von Arbeitsstandards sowie gegen Steuerdumping globaler Konzerne, die Rolle der Wirtschaftspartnerabkommen der EU mit afrikanischen Ländern, den Einfluss globaler Vermögensverwalter sowie jenem globaler Medienimperien wie der Familie Murdoch.

Theorien um Ungleichheit zu erklären.

Für die Erklärung von globaler Ungleichheit gibt es im Wesentlichen zwei Theorieanstränge: Dependenztheorien und Modernisierungsansätze. Für Fischer und Grandner ist die Hoffnung auf „trickle down“ (dt. heruntertröpfeln) sowie nachholende Modernisierung weitgehend gescheitert. Ungleichheit aber ausschließlich aus strukturellen Abhängigkeitsbeziehungen zu erklären, greife jedoch ebenfalls zu kurz. Politökonomische Erklärungen ergänzen sie mit kulturellen Ansätzen, die etwa auch Geschlechtsdimensionen berücksichtigen. „Es gibt keinen prime mover (dt. ursprünglicher Beweger, Anm. d. Red.), keinen Wirkmechanismus, der allein für Ungleichheit verantwortlich ist.“ (S. 22)

„Lotterie der Geburt“.

Der Band bietet auch empirische Befunde: Basierend auf Daten des Human Development Index (dt. Index der menschlichen Entwicklung) der UNO, der Lebenserwartung, Bildung und Bruttoinlandsprodukt verbindet, zeigt die Entwicklung in allen Weltregionen in eine positive Richtung (Andreas Exenberger, S. 29f.). An anderer Stelle wird jedoch erklärt, dass die Konvergenzthese einen Haken hat: „Ohne China stagniert die globale Ungleichheit, ohne China und Indien steigt sie sogar“ (Axel Anlauf/Stefan Schmalz, S. 194f.). Und die Kluft ist global nach wie vor eklatant: „Weltweit vereinte das oberste Prozent fast 30 Prozent des gesamten Einkommenswachstums von 1980 bis 2016 auf sich, die oberen 10 Prozent fast 60 Prozent.“ (S. 229) Fischer spricht von einer „Geografie der globalen Einkommensungleichheit“ als „Lotterie der Geburt“ (S. 214).

Austrocknung von Steueroasen erforderlich.

Dies gilt nicht weniger für die Entwicklung der Vermögen, die mit Bezug auf „Reichenlisten“ dargestellt werden. Da Reiche der Wirtschaft Werte entziehen und Entwicklungsmöglichkeiten verhindern, seien politische Maßnahmen wie die Austrocknung von Steueroasen sowie die Substanzbesteuerung von Vermögen unumgänglich, so Fischer. Dass die Wissenschaften auch dafür Belege haben, zeigt das Schlusskapitel des lesenswerten Buches über „Theorien der Gerechtigkeit“. Diese umzusetzen, wird Aufgabe eines Bündnisses engagierter Politikerinnen mit zivilgesellschaftlichen Kräften sein.

Hans Holzinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und pädagogischer Leiter der Robert‐Jungk‐Bibliothek für Zukunftsfragen. Diese Rezension wurde zuerst bei ProZukunft veröffentlicht. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at.

Karin Fischer, Margarete Grandner (Hg.): Globale Ungleichheit. Über die Zusammenhänge von Kolonialismus, Arbeitsverhältnissen und Naturverbrauch. Mandelbaum Verlag, Wien 2019; 399 S.

Weiterführende Links:

Zum Buch beim Mattersburger Kreis

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